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Text: Dr.Brigitte Hammer, 2003
  
DIE HÄNDE DER MNEMOSYNE ODER VON DER ARBEIT AN DER ERINNERUNG

Ein dunkelblauer Zeichenstift beginnt seinen Weg über das Blatt mittig in der Nähe des unteren Bildrandes und durchmisst die Fläche bis ins Zentrum, wendet sich leicht nach rechts, bildet eine ovale Schleife, um dann mit fest-tem Schwung seine ursprüngliche Richtung zum oberen Bildrand fortzusetzen, wo er sich nach links neigt, parallel zur oberen Blattgrenze einige kleine Schleifen bildet, die dem Betrachter später wie Finger erscheinen wollen, um sich dann im jähen Schwung an den unteren Bildrand hinabzustürzen, wie in einer echotischen Wiederholung der oberen Verschlingung sich in einen Fuß mit Zehen zu wandeln und mit einem kurzen Schwung wieder beim Ausgangspunkt anzukommen. Und in einem weiteren echotischen Vorgang wiederholt sich das senkrechte Durchmessen des Blattformats, so dass ein unregelmäßig-symrnetrisches Zwitterwesen entsteht, über dessen geöffnetem Händepaar am oberen Bildrand ein selbstbewusstes ICH schwebt. Die Bildfläche, von einem Liniengeflecht in hellem Blaugrau strukturiert, am Rande im Wechsel von zartroten und schwach schimmernden dunkelblauen Rhomben begrenzt, weist diese als Rückseite eines Luftpostbriefumschlages aus.
 Am Beispiel dieses kleinen Blattes lassen sich einige typische Merkmale der Art und Weise
erkennen, wie Susanne Pomrehn ihre Bildideen entwickelt und verfolgt, wobei sie mit den materialen und formalen Voraussetzungen ihres Kunstmachens höchst originell und eigenwillig umgeht. Ausgehend von Materialien, die eine "Geschichte" (gebrauchte Briefumschläge, Vorsatzblätter aus alten Fotoalben und Büchern) oder einen "Charakter" {Millirneter-papier, Fotokopien) haben, sucht Pornrehn jene Spannung, die einen vom alltäglichen Gebrauch geprägten Rohstoff in einem künstlerischen Kontext in einen Erkenntnisimpuls verwandelt. Ihre gestalterischen Eingriffe sind dabei sparsam, aber äußerst präzise und wirkungsvoll, sozusagen "minimal-invasiv". Die Verwendung dieses aus der modernen Medizin stammenden Ausdrucks (er bezeichnet dort patientenschonende mikrochirurgische Operationsmethoden) sei in diesem Zusammenhang erlaubt, schließlich benutzt Pomrehn für ihre präzisen Bildschnitte oft ein Skalpell,
Pomrehn arbeitet in offenen Zyklen oder Reihungen, in denen ein Bildmotiv durch Wiederholung bei seiner Verwandlung beobachtet werden kann. Ihre Bildelemente sind dabei ebenso einfach wie universell: Hände, Augen, Herzen, Spiralen, Ornamente, Häuser, Bäume, Rosen, Schmetterlinge, Vögel, Flugzeuge, um

 

nur einige zu nennen. Sie sind allgemein verbreitete und wiedererkennbare, kulturell nicht determinierte Zeichen, die sich deshalb besonders gut in ihren allmählichen Metamorphosen beobachten und auf strukturelle Ähnlichkeiten hin untersuchen lassen. Das überraschende und lehrreiche Erkennen entdeckt, dass eine gotische Bauform und ein Autobahnkreuz auf einem Wandbild in einem Institut der Technischen Universität Berlin in eine Bildfläche gebracht, über eine strukturelle Übereinstimmung hinaus ihr Eigenes zeigen, ist aber nur ein Aspekt der Pomrehnschen Metamorphosen. Der andere ist die Erzeugung von Vieldeutigkeit, die einen "aktiven" Betrachter verlangt, der bereit und fähig ist, seinen persönlichen Zeichenvorrat als einen gewordenen zu reflektieren. Dabei ist Vieldeutigkeit bei Pornrehn nicht nur ein Zufallsergebnis des Schaffensprozesses, sondern ebenso gestalterisches Ziel ihrer visuellen Grundlagenforschung, die die komplexen Beziehungen zwischen Sehen, Denken und Empfinden untersucht.
Pomrehns künstlerisches Konzept folgt zwei unterschiedlichen Ansätzen. Auf der einen Seite untersucht sie die Welt der äußeren, kollektiven Bilder und beschäftigt sich auf der anderen mit inneren, individuellen Gestalten, die sie -wie das eingangs beschriebene Beispiel zeigt - in einer Art "Ecriture automatique" entdeckt. Wenn sie Fotokopien von Fotografien mit dem Skalpell bearbeitet und beispielweise Schmetterlinge aus der Bildfiäche ausschneidet und auf einer neuen Bildfläche neue Bilder mit den ausgeschnittenen


 

Formen und den Restflächen komponiert, knüpft sie an jene konzeptionellen Bildfindungstraditio nen an, die Bilder nach Bildern entstehen lassen und aus einem kollektiven Bilderreservoir eine individuelle und eigenständige Bildschöpfung entwickeln, die den ursprünglichen Bildinhalt dramatisiert und emotional auflädt. Die ausgeschnittene Form, z. B. der oder die Schmetterlinge stehen in keinem inhaltlichen oder formalen Zusammenhang mit dem Bildinhalt, so dass das ursprüngliche Bild eine höchst ambivalente Verwandlung erfahrt: Zerschnitten verliert es seine ursprüngliche Bedeutung, gewinnt aber auch eine tragische Ästhetisierung mit poetischen Wirkungen. In ihren zeichnerischen Arbeiten forscht die Künstlerin einem individuellen und originären Bildpotential nach, das die Hand mit dem Zeichenstift aus einer vorbewussten Tiefenschicht zu steuern scheint. Hier modifiziert sie jene Bildtraditionen, die ihre Impulse aus archaischen Formen ziehen, indem sie der heterogenen Kakophonie zeitgenössischer Bildsprachen eine ungekünstelte Spontaneität und frische Ursprünglichkeit entgegensetzt. Beide Formen der Bildfindung haben die Reflek-tion der Erinnerung zum Ausgangspunkt und sind so wechselseitig aufeinander bezogen. So scheinen die Hände, die den Zeichenstift oder das Skalpell bewegen, von Mnemosyne selbst geführt zu werden, denn als Göttin des Gedächtnisses stimuliert sie jene Kraft, welche die Abbilder des Seienden im Geiste wieder aufruft und das Vergangene im Bilde wiederkehren lässt.

Text: Dr.Brigitte Hammer